Auf der Suche nach einem neuen Lebensweg

„Körperlich hatte ich praktisch keine Beschwerden in den Wechseljahren. Aber psychisch hat es mich komplett gecrasht. Das hätte ich vorher nicht für möglich gehalten.“ Wenn Karin (57) von ihrer schwierigen Phase der Neuorientierung spricht, muss sie heute noch schlucken. Obwohl Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit Krisen für sie als Heilpraktikerin zum Berufsalltag gehören, hat es sie „kalt erwischt“.

Eigentlich wollte Karin nach der Familienzeit beruflich richtig durchstarten. Schon als ihre Kinder noch klein waren, besuchte sie regelmäßig Fortbildungen zu alternativen Heilmethoden – etwa in Zen-Meditation und Homöopathie. „Das war mir immer sehr wichtig, auch für meine eigene Persönlichkeitsarbeit“, erzählt Karin. Als die jüngste Tochter zehn war, eröffnete sie wieder eine eigene Heilpraxis. Mit viel Herzblut entwickelte sie neue Ansätze, wie sie die bekannten Diagnose- und Behandlungsstrategien miteinander verknüpfen konnte. „In jeder freien Minute habe ich mich damit beschäftigt. Wenn die Kinder im Bett waren, habe ich meine Ideen aufgeschrieben. Das war eine sehr intensive, kreative Zeit.“ Und immer habe sie „mit den Hufen gescharrt“, dass sie sich dieser Aufgabe endlich ganz widmen könne – der Heilpraxis, die für sie ihre Berufung war.

Endlich Zeit für die eigenen Pläne

Dann kam der langersehnte Zeitpunkt. Die beiden älteren Töchter waren vor kurzem ausgezogen, die Jüngste verabschiedete sich nach dem Abitur zu einer Projektarbeit ans andere Ende der Welt. Endlich hatte Karin den Freiraum, die eigenen Pläne zu verwirklichen. „Aber plötzlich ging nichts mehr. Ich war wie gelähmt, es hat mir komplett die Füße weggezogen. Ich wusste nicht mehr, wie ich die nächsten zehn Minuten überleben sollte.“ Sie sei kurz davor gewesen, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen, sagt sie. „Ich konnte einfach nichts anfangen mit dem, was mir widerfuhr. Ich dachte, ich müsste einfach disziplinierter sein, engagierter. Und gleichzeitig konnte ich keinen einzigen Schritt mehr gehen.“ Ruhe, nichts machen müssen – das war alles, woran sie denken konnte. 

Sie googelt nach ihren Symptomen und findet den Begriff der Entlastungsdepression, ein in der Psychologie bekanntes Erkrankungsbild, das nach dem Ende einer extremen psychischen oder körperlichen Belastungsphase auftritt. Ein schwarzes Loch, in das man fällt, wenn die Anspannung nachlässt.

Erholung versprach sie sich von einer Urlaubswoche auf einer ganzheitlichen Schönheitsfarm am Tegernsee. Obwohl Wellness- und Beauty-Behandlungen eigentlich nicht ihr Ding waren, erzählt sie, tat ihr die „Rundumversorgung mit Verwöhnprogramm und gesunder Ernährung“ gut. Zum ersten Mal seit 25 Jahren war sie nicht die Frau, die sich um andere kümmern musste – sondern wurde bedient und behandelt wie eine Königin. „Da hab ich geheult wie ein Schlosshund. Und ich habe angefangen, mich zum ersten Mal wieder selbst zu spüren“, sagt sie und bekommt noch in der Erinnerung feuchte Augen.

Die Zukunft: ein unbeschriebenes Blatt

Sie erinnert sich an einen Traum, den sie vor dem Auszug der Töchter hatte: „Ich habe ein Buch gelesen und als ich umblätterte, war die nächste Seite leer. Alles weiß.“ In der Krise bezog sie den Traum zunehmend auf ihr Leben: Obwohl sie konkrete Pläne hatte, war ihre Zukunft offenbar noch ein unbeschriebenes Blatt. Das machte ihr Angst. 

Sie begann, sich mit ihren negativen Gedanken auseinanderzusetzen: mit dem „The Work“-Programm der US-amerikanischen Autorin Byron Katie. „Da geht es darum herauszufinden, welche Gefühle ein Gedanke auslöst und was passiert, wenn man diesen Gedanken nicht hat“, erklärt Karin. Sie fand heraus, womit sie sich unter Druck setzte. „Ich habe festgestellt: Ich muss das alles gar nicht machen. Ich muss keine Praxis führen, ich muss nicht für andere da sein.“ Ihren Lebensplan loszulassen, sich zu verabschieden von dem, was sie zu viel Kraft gekostet hatte: ein völlig neuer Gedanke für sie.

„Was will ich überhaupt?“

Der erste Schritt aus der Krise. Doch zu wissen, was sie nicht mehr wollte, war das eine. Viel schwieriger fand es Karin herauszufinden, was sie stattdessen wollte. „Da fehlen uns einfach die Vorbilder“, meint sie, „die Rollenmodelle für Frauen nach den Wechseljahren.“ Bei der Suche geholfen haben ihr Gespräche mit einer Psychotherapeutin, eine Radtour ganz alleine durch Dänemark – und ein Buch mit einem Titel, der ihr aus der Seele sprach: „Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will“ von Barbara Sher. „Im Urlaub hatte ich viel Zeit nachzudenken, was mir wirklich wichtig ist. Ich habe gemerkt, wie gut es mir tut, draußen in der Natur zu sein. Das war immer etwas, was mir viel Kraft gegeben hat. Und der Kontakt zu Menschen.“ Ein einfaches, naturnahes Leben ohne großen Stress – so konnte sie sich die Zukunft vorstellen. 

Ihre Praxis gab Karin auf. Ein paar Kilometer von ihrem Wohnort entfernt fand sie ein Stück Bio-Ackerboden, das zum Bewirtschaften an Privatleute verpachtet wurde. „Das war wie eine Therapie für mich“, schwärmt sie, „mit Pflanzen zu arbeiten und das, was wächst, dann zu essen.“ Allmählich findet sie zu sich selbst zurück.

Ein neuer Anfang

Loslassen, das war ihr Thema: die Praxis, die Kinder, ihre gewohnte Art zu denken. Zu Hause hat sie kräftig entrümpelt: „Ich habe die alten Bücher verkauft und sehr vieles weggegeben, was ich nicht mehr brauchte. Auch die Haare mussten ab“, erzählt sie schmunzelnd. Ihr Mann hat Probleme, die Wandlung seiner Frau nachzuvollziehen. Karins neue Lebenseinstellung stellt die Beziehung auf eine harte Probe.

Pläne machen und organisieren wie früher, das konnte sie nicht mehr, sagt sie. „Die Kehrtwende bedeutete für mich innezuhalten und zu schauen, wo mich das Leben abholt.“ Einen „Brotjob“, der ihr dafür genug Zeit ließ, den wünschte sie sich. Tatsächlich fiel ihr der quasi in den Schoß: eine Teilzeitanstellung in ihrem früheren Ausbildungsberuf als medizinisch-technische Angestellte in einer Reha-Klinik. „Da komme ich unter Menschen und habe nicht mehr diesen Verantwortungsdruck wie früher.“ Der Anfang war schwer, sagt sie, schließlich war sie 25 Jahre aus dem Beruf raus. „Im Endeffekt ging es aber besser als gedacht.“

„Die Pflicht ist vorbei, jetzt kommt die Kür“, so hat es ihre Therapeutin formuliert. Wie die Kür im letzten Lebensdrittel aussieht, wohin ihr sie Lebensweg weiter führen soll, das weiß Karin auch heute noch nicht genau. „Ich muss noch auf Sicht fahren“, erklärt Karin, „Geduld haben und schauen, was kommt.“ Aber sie ist auf einem guten Weg, da ist sie sich sicher: „Es fühlt sich immer besser an.“ 

3 Gedanken zu „Auf der Suche nach einem neuen Lebensweg“

  1. Liebe Karin, liebe Clara!
    Ich kann mich Jasmins Kommentar übers „Träume loslassen“ nur anschließen. Ich empfinde es als sehr wohltuend, (endlich mal) von einer Frau zu hören, die in den Wechseljahren nicht das Rad neu erfindet, sondern einfach leiser tritt, möglicherweise leiser wird, aber deswegen noch lange nicht unsichtbar.
    Versteht mich bitte nicht falsch – ich habe großen Respekt vor Frauen, und natürlich allen Menschen, die neue Wege wagen und ein spannendes Kapitel aufschlagen, ganz besonders in Lebensabschnitten, wo keiner damit rechnet. Aber all diese Berichte über „Wunder“-Frauen (und Männer) können auch verunsichern, stressen, den eigenen Mut ausbremsen und genau das Gegenteil bewirken, nämlich dass man sich klein und unbedeutend fühlt, mit seinen (bescheidenen) Wünschen, oder vielleicht sogar große Ziele hat, aber diese einfach nicht erreicht.
    In Zeiten, wo an jeder (virtuellen) Ecke jemand „lautert“, der in jeder Minute etwas Besonderes, Beispielloses tut, ist es Balsam fürs Gemüt von Menschen zu lesen, die auf sich hören, ihre wahren Bedürfnisse ernst nehmen und diese dürfen, können und müssen manchmal sogar einfach nur uns selbst gut tun und für die Welt da draußen wenig spektakulär sein.
    Lieben Gruß und Dank,
    nicht nur für den Beitrag über Karin, sondern auch für die gelungene Website.
    Sandra

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  2. Vielen Dank für den sehr interessanten Bericht über Karin!
    Besonders spannend finde ich zu lesen, dass es manchmal auch gut sein kann, die großen Träume loszulassen und ein einfache(re)s Leben in Verbindung mit der Natur zu leben. Oft wird uns ja der Eindruck vermittelt, dass man unbedingt groß träumen muss, da man sonst niemals glücklich werden kann.
    Doch vielleicht ist jeder in Achtsamkeit bewusst verbrachte Tag schon das größte Glück überhaupt?

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    • Liebe Jasmin,
      vielen Dank für dein Feedback! Das ist eine sehr interessante Anregung. Letztendlich geht es ja immer um jeden einzelnen Tag, den wir glücklich verbringen wollen. Ich bin sicher, dass uns Achtsamkeit dabei sehr helfen kann.
      Ganz liebe Grüße, Clara

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